Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe,

Haftungsrisiko Kinderschutz - Blockade oder Motor?

Cover: Haftungsrisiko Kinderschutz - Blockade oder Motor?
Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik (Hrsg.)

Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, Bd. 91, 2014, DINA4, deutsch, 198 S.

ISBN: 978-3-931418-98-4
Printausgabe vergriffen

Inhalt

Im Mittelpunkt dieser Tagung stand die fachliche (Weiter)Entwicklung der Kinderschutzarbeit. Die allgegenwärtigen Fragen, wie groß ist das Risiko im Kinderschutz wirklich, wer haftet wofür und das damit verbundene Thema "Angst" (etwas zu übersehen, etwas zu unterlassen), wurden zu Beginn der Tagung erörtert. Wir wollten der gefühlten Unsicherheit vieler Sozialarbeiter/innen vor dem Haftungsrisiko im Kinderschutz reale Fakten gegenüberstellen und gemeinsam darüber diskutieren, wer tatsächlich wofür juristisch, fachlich und organisatorisch haftet. Und insbesondere wollten wir beleuchten, wo die Grenzen der Haftbarkeit im Kinderschutz sind, in einer Praxis, die mit Risiken (aber auch Chancen) behaftet ist.

Eine Premiere der anderen Art

Herzstück dieser Fachtagung waren fünf Foren, in denen die Kinderschutzarbeit an den Fällen "Lea-Sophie" in Schwerin, "Laura-Jane" in Osnabrück, "Lara-Mia" in Hamburg, "Kevin" in Bremen und "Zoe" in Berlin-Pankow vorgestellt wurde. Es ging dabei nicht darum, die jeweiligen Kinderschutzfälle zu analysieren oder gar die Schuldfrage zu diskutieren. Es ging um eine Verständigung darüber, wie die betroffenen Kolleg/innen das tragische Ereignis eines zu Tode gekommenen kleinen Kindes in ihrem Verantwortungsbereich erlebt und verarbeitet haben, womit sie konfrontiert wurden, wie sie damit umgegangen sind, was sich im Amt verändert hat, was sie Kolleg/innen in ähnlicher Situation empfehlen würden.

Das Besondere daran war, dass sich Kolleginnen und Kollegen aus fünf Jugendämtern in einer fachöffentlichen Debatte über ihre persönlichen Erfahrungen äußerten, "wie es ist, wenn es einem passiert". Es waren sehr emotionale Stunden, viele dieser Schilderungen haben tief bewegt und gezeigt, wie belastend es persönlich für die einzelne Fachkraft ist, wenn ein Kind zu Schaden kommt und was für schwierige Situationen diese Kolleg/innen durchgestanden haben, die zum Teil bis heute nachwirken.

Bei der Nachlese im Plenum wurde darüber diskutiert, ob das Wagnis gelungen ist, mit Fachkolleg/innen über ihre Erfahrungen mit schwierigen, problematischen, gescheiterten Fallverläufen produktiv und offen, aber nicht verletzend, zu sprechen.

"Durch die Gespräche über diese Fälle findet eine Enttabuisierung dieses Themas statt. Die Angst ist immer gegenwärtig, aber man guckt sich solche Fälle oft lieber nicht genauer an. Hier empfinde ich es so, als hätten wir uns der Angst direkt gestellt und hätten das Thema aus der Tabuzone geholt. Man konnte es sehr gut nachvollziehen, was berichtet wurde, und man konnte sich darüber austauschen. Dadurch ist ein ganz anderer Umgang mit dem Thema für die einzelnen Personen möglich geworden. Das halte ich für sehr wichtig." (Teilnehmerin)

 "Ich habe mich – ähnlich wie die Kollegin aus Hamburg – sehr wohl und gut angenommen gefühlt in meinem Forum und hatte keine Probleme, über den Fall zu sprechen. Mir kam es so vor, als sei es auch ein Stück Verarbeitung für mich. Ich habe mich auch bei dem Forum bedankt, weil es wirklich angenehm war, wie die Kolleg/innen mitgegangen sind." (Referent)

Den Risikobegriff neu denken?

Die Diskussion in den Foren führte schließlich zu der Frage, ob sich der Blick auf den Umgang mit dem Risiko zu verändern beginnt. Risiken müssen eingegangen werden und es lohnt das Nachdenken über eine andere Auffassung von Risiko, d.h. Kinderschutz nicht nur im Sinne von Gefahrenabwehr zu betrachten. Es kommt darauf an, Eltern in die Lage zu versetzen, für ihre Kinder zu sorgen. Das ist letztendlich das Risiko, das es zu wagen gilt; und diese Verantwortung zu tragen, ist vielleicht schwieriger als das Haftungsrisiko. In diesem Sinne war die öffentliche Fachdebatte auf dieser Tagung sehr hilfreich, weil sie für die beteiligten Fachkräfte wichtige Einblicke, Reflexionen und auch Verarbeitung ermöglicht(e).

Und: Es wurde sehr viel gute Kinderschutzpraxis vorgestellt, die in dieser Tagungsdokumentation zusammen mit allen anderen Beiträgen nachzulesen ist.

Aus dem Inhalt

Eröffnung der Tagung

Prof. Dr. Christian Schrapper, Universität Koblenz-Landau

Kinderschutzarbeit: Wer muss für welches Risiko haften?

  • Aus juristischer Perspektive:

    Gila Schindler, BERNZEN SONNTAG Rechtsanwälte, Heidelberg
  • Aus fachlicher Perspektive:

    Prof. Dr. Michael Böwer, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Paderborn
  • Aus organisatorischer Perspektive:

    Carolin Krause, Jugendamt Köln

Was passiert, wenn’s passiert (ist)? – Foren

  • Forum 1: Kinderschutzarbeit am Fall des Kindes "Lea-Sophie" in Schwerin

    Babeth Janitz und Manuela Witt, Jugendamt Schwerin

    Prof. Dr. Kay Biesel, Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Basel
  • Forum 2: Kinderschutzarbeit nach dem Fall "Laura-Jane"  in Osnabrück

    Ute Heidelbach und Wolfgang Ruthemeier, Jugendamt Osnabrück
  • Forum 3: Kinderschutzarbeit am Fall des Kindes "Lara-Mia" in Hamburg

    Astrid Diers, Jugendamt Hamburg-Altona
  • Forum 4: Kinderschutzarbeit am Fall des Kindes "Kevin" in Bremen

    Bert Kaufmann, Bremen

    Felix Brandhorst, Kronberger Kreis für dialogische Qualitätsentwicklung e.V., Berlin
  • Forum 5: Kinderschutzarbeit am Fall des Kindes "Zoe" in Berlin-Pankow

    Judith Pfennig und Simone Matthe, Jugendamt Pankow von Berlin

Nachlese: Was nehme ich mit aus diesem Tag?

Alles Risiko? Zum Katastrophenpotenzial des Kinderschutzes und seinen Folgen

Prof. Dr. Kay Biesel, Basel

Was gehört zum professionellen Umgang mit dem Risiko?

Arbeitsgruppen

  • Arbeitsgruppe 1: Leiten im Risiko – Wie viel Leitung braucht der Kinderschutz?

    Lou Vossen, Bezirksjugendamt Köln Ehrenfeld
  • Arbeitsgruppe 2: Reduzierung des Risikos durch fachliche Konzepte und gute Organisation

    Regina Quapp-Politz und Wulfhild Reich, Jugendamt Stuttgart
  • Arbeitsgruppe 3: Arbeiten mit dem Risiko – Geeignete Instrumente, Verfahren und Methoden

    Peter Lukasczyk und Marco Cabreira da Benta, Jugendamt Düsseldorf
  • Arbeitsgruppe 4: Kooperation im Risiko – Netzwerke lebendig und wirksam gestalten

    Ulrike Grob-Weidlich, Jugendamt Worms

    Holger Müller, ASD-Sozialbezirk Leipzig-Ost
  • Arbeitsgruppe 5: Partizipation im Risiko – Kinder und Eltern einbeziehen

    Dr. Christine Maihorn, Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V.
  • Arbeitsgruppe 6: Lernen am Risiko – Gute Arbeit im Kinderschutz

    Britta Claassen-Hornig, Sozialzentrum Gröpelingen-Walle, Bremen

Risiko mal (ganz) anders betrachtet

Über den gesellschaftlichen Umgang mit Sicherheit: Entscheidungen unter Unsicherheit und begrenzter Zeit, Risikokompetenz und Risikokommunikation

Dr. rer. nat. Nicolai Bodemer, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Literaturhinweise

 

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